Erfahrungen vom Kongress „Jenseits des Wachstums“
Ihr geht als Anarchist_innen zum Attac-Kongress? Ja, warum nicht? Viele von uns beschäftigen sich mit möglichen Formen solidarischer Ökonomien nicht nur jenseits des Wachstums, sondern auch jenseits des Kapitalismus, ja sogar möglichst jenseits aller denkbaren Herrschaftsstrukturen. Auch das Anarchistische Radio Berlin behandelt aktuell diese Themen. Hier einige Ausschnitte vom Kongress, die uns interessiert haben und die wir mal einzeln, mal gemeinsam besucht haben.
Zu Beginn wollte ich den Überblickskurs „Ideen und Praxis Solidarischer Ökonomien“ besuchen. Glücklicherweise war er sehr gut besucht, unglücklicherweise war er in einen kleinen Raum mit höchstens 50 Sitzplätzen gelegt, so dass selbst vollgequetscht viele nicht mehr rein konnten. Ich habe dann lieber meinen Platz geräumt und bin zu „Sustainability and Growth in Economic Theory“ weitergezogen. Hier wurde das neoklassische Theoriegebäude der Wirtschaftswissenschaften quasi davon freigesprochen, für das Wachstumsparadigma verantwortlich zu sein. Es käme letztlich auf die Aufstellung der (Grenz-)Nutzenfunktion an, welche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als optimal bestimmt werden. Der Vorteil dieser Erkenntnis ist, dass mensch vielleicht die Argumentation von sogenannten Wirtschaftswissenschaftler_innen besser verstehen und kritisieren kann. Allerdings bleiben die Grundannahmen der Neoklassik sehr realitätsfern (v.a. die rationale Entscheidung der Menschen) und einem Zuwachs verpflichtet (die Profit- bzw. Nutzenmaximierung von Unternehmen), so dass der Nutzen der Modelle im Publikum hinterfragt wurde. An dem Beispiel Transportsektor wurde anschließend veranschaulicht, wie der Rahmen der Nutzenmaximierung flexibel gestaltet werden kann: Wenn etwa Ruhe- oder Grünflächen als positive Variablen aufgenommen werden, Abgase oder Energieverbrauch als negative, so werden sich für die Planenden entsprechende Empfehlungen ableiten lassen … Die Wünsche und Ideen der Nutzenden beeinflussen also die Modelle, die Grundannahmen verbleiben aber in einer szientifistischen Logik. Angesichts der Reflexion von Wissenschaftsmethodik und des fachlichen Tiefgangs die für mich aufschlussreichste Veranstaltung des Kongresses.
Da die Auftaktveranstaltung wie viele Auftaktveranstaltungen zu werden drohte, habe ich mir nur den Beitrag von Vandana Shiva angehört. Sie brachte die Menge dann auch ganz gut in Wallung, indem sie einige erschütternde Nebenwirkungen des so genannten Wirtschaftswachstums in Indien ansprach. Dabei war eine zentrale Aussage, dass die Messung von Wachstum ‚naturfern‘ (nicht der Wortlaut der Rednerin, sondern die Umschreibung d. A.) und von herrschenden Interessen geleitet sei und entsprechend nur für Wenige ein Mehr bringe, während es für die übrige Bewohnerschaft des Planeten Raubbau bedeute. Soweit dürfte es Konsens bei den Kongressteilnehmenden gegeben haben (wenngleich die durchaus zu den Wenigen gehören mögen).
Am Folgetag gab es neben Podien und Foren, deren Unterschied sich uns nicht ganz erschloss, auch zahlreiche Workshops. Die dauerten aber auch nur 90 Minuten und waren fast immer so voll, dass es kaum zu einer gemeinsamen Erarbeitung oder Diskussion kam.
Harald Klimenta erzählte in einem historischen Abriss, wie die Natur seit 5.000 Jahren ausgebeutet wird und die Menschen sich für Fortschritt begeistern. So haben beispielsweise Bauern im Mittelalter aus Angst um die Wälder detaillierte Konzepte zur nachhaltigen Forstwirtschaft entwickelt. Heute sei dies jedoch gefährlicher als in früheren Zeiten, da zum einen die Mythen von Fortschritt viel weiter ins Denken der Gesellschaft eingesickert und verbreitet sind und zum anderen die Antwort-Zyklen länger geworden sind: Auf Übernutzung des Waldes zu regieren, ist innerhalb weniger Jahre möglich, der Anreicherung von Treibhausgasen in der Erdatmosphäre entgegenzuwirken, erfordert dagegen deutlich mehr Zeit. Um als Gesellschaft überleben zu können, nennt er als wesentlichen Faktor, dass diese selbst auf Umweltprobleme reagiert, statt auf die zu trägen Eliten zu hoffen. Harald sieht Spuren für bedenkenlose Ausbeutung der Natur in Schriften griechischer Philosophen, christlicher Schreiber_innen und Marxist_innen. Er regt an, in eine andere Art von Denken zu kommen. Von Individualisierung, Ich-Zentrierung, Überbetonung von Vernunft und Rationalität, Überhöhung des Berufs als Berufung zu Wechselwirkungsdenken und Verantwortung für mehr als mich und die Familie. Dazu seien, nach Harald, Geschichten notwendig, die andere
Vorstellungswelten eröffnen.
Sozialpsychologe Harald Welzer analysiert in „Mentalen Infrastrukturen“ , dass für das jetzige System nicht nur materielle und institutionelle Infrastrukturen, sondern auch mentale notwendig sein. Damit meint er u. a. Konzepte, die wir als selbstverständlich verinnerlicht haben, obwohl es auch Zeiten gab, in denen dies nicht der Fall war. Als Beispiele nennt er das Leistungsdenken ab der Grundschule und die Tatsache, dass Menschen einen Lebenslauf haben müssen. In seinem Papier stellt er wie Harald Klimenta die Frage nach anderen Erzählungen, Visionen, Perspektiven: „Woran es fehlt, ist eine Vision, die emotional und identitätsträchtig ist, eine Formulierung der Frage, wie man im Jahr 2025 eigentlich leben möchte.“ Bei bisherigen Praxis-Ansätzen befürchtet er, dass sie zu kleinteilig seien, um gesellschaftliche Transformation anzustoßen, auch wenn sie oft zum direkten Mitmachen oder Nachahmen einladen. Welzer schließt seinen Aufsatz mit „Die Erfindung einer Gesellschaft nach dem Wachstum ist ein zivilgesellschaftliches Projekt, dessen Umsetzung man an niemanden delegieren kann.“
Der Hinweis darauf, wie eng unsere Denk- und Verhaltensweisen in dem wirtschaftlichen System verstrickt sind, dass wir unsere Welt selbst produzieren und konstruieren, erscheint mir elementar. Allerdings klingt das nicht neu, „Waren- und Geldfetisch“ sowie „Disziplinargesellschaft“ und „Bio-Politik“ beschreiben sehr ähnliche Strukturen und Prozesse, und das durchaus komplexer. Vielmehr werden hier neue Begriffe eingeführt und das Ganze mit Erkenntnissen der Hirnforschung über die „in der Biosphäre einzigartige Neuroplastizität“ ergänzt. (Dabei ist fraglich, ob diese Wechselwirkung von Kultur und Hirn nicht auch bei Tieren abläuft und die Einzigartigkeit des Menschen wie seine Kultur konstruiert ist.) Letztlich wird eine Reduktion vollzogen, indem Wachstum statt Kapitalismus als zu überwindender Missstand ausgemacht wird. Eine Kritik übrigens, die für die Wachstumskritik allgemein gilt.
In „Rohstoffausbeutung für die „grüne“ Wirtschaft?“ wurde verdeutlicht, dass Windräder und Elektroautos kein Ökoparadies und schon gar kein Sozialparadies bedeuten – insbesondere nicht in ärmeren, Ressourcen extrahierenden Ländern. Selbstverständlich sind auch für diese Produkte Rohstoffe notwendig, teils sogar mit erhöhten negativen Auswirkungen. Und auch eine Recyclingwirtschaft braucht eine Energiezufuhr und einen Arbeitseinsatz. Natur- und Menschenausbeutung hängen letztlich von den Wirtschafts- und Austauschstrukturen ab, nicht von der technischen Entwicklung. Im gegenwärtigen grünen Wirtschaftsdiskurs geht es aber lediglich um ein Ersetzen der Technik. Zur Diskussion gestellt wurde dennoch, ob wir – in den reichen Ländern – denn nicht den Ärmsten ihre Ressourcen abkaufen müssen oder sie durch fairen Umgang und Investitionen unterstützen, eine eigene Industrie und Wertschöpfungskette aufzubauen. Dieser Ansatz klingt nach der Modernisierungstheorie der 1950er-Jahre, deren Paradigma einer nachholenden Entwicklung nach dem Vorbild der reichen Industrieländer noch in den vielen einflussreichen Institutionen fortdauert. Leider ist dieses paternalistische Denken einer Entwicklungshilfe weit verbreitet, was freilich auch einer tiefen gegenseitigen Abhängigkeit entspringt und auch nicht so einfach aufzulösen ist. Erlösend kam der abschließende Kommentar eines Gasts, der gerade aus dem Workshop „’Besser leben’ oder ‘gut leben’? Das ‘Buen Vivir’ als gesellschaftliche Alternative zum Wachstumsdogma“ kam und von einem lateinamerikanischen Vertreter erfahren hatte, dass der Großteil der dortigen Bevölkerungen die Ressourcen gar nicht nutzen und verkaufen will, sondern ein anderes Leben und Wirtschaften wünscht.
In „Nicht schneller, höher, weiter in die Sackgasse! Perspektiven für solidarische Mobilität gegen den Wachstumswahn im Verkehr“ von Bündnis „Bahn für Alle“ stolperten wir, nachdem andere Workshops hoffnungslos überfüllt waren. Es wurde nicht ganz klar, was solidarische Mobilität letztlich bedeutet, aber es gab weit reichende Übereinstimmung, dass der hochmotorisierte Individualverkehr und auch das von der Bundesregierung und den Medien geförderte Elektroauto nicht dazu zählen. Stattdessen wurde u. a. auf die nicht ganz neue Forderung von Car-Sharing und einem umfassenden, verbindenden Mobilitätskonzept erhoben. Hab ich das nicht vor ca. 20 Jahren schon mal gehört … Irgendwie ist da auch nicht viel passiert, und was würde sich dadurch eigentlich ändern? Würden wir dann durch die Verbindung von Auto, Bahn und Fahrrad effizienter und schneller mobil sein? Mobilitätskonzepte scheinen irgendwie auch fest in die mentalen Infrastrukturen verknotet zu sein … ähnlich wie die Frage, wie wir das denn den Arbeitenden der ganzen Industrien zumuten können, wenn wir ihr Zeug nicht mehr brauchen (unbestritten werden das viele erstmal nicht so lustig finden …), welche sehr der obigen nach dem Rohstoffexport gleicht.
Als Anregung aus einem Podium nehme ich mit, Menschen, die meinen durch individuelle Anstrengung, sei es jedem und jeder möglich, einen guten Platz im jetzigen System zu finden, mit „auch du bist Sozialhilfeempfänger_in“ daran zu erinnern, dass es eine Illusion ist, ohne irgend eine Form der Unterstützung aus einer Gesellschaft oder Gemeinschaft leben zu können oder gar eine „führende Position“ zu bekommen. Als ein möglicher reformatorischer Ansatz wurde genannt, die Notwendigkeit von unterschiedlichen Ökonomien für unterschiedliche Lebensbereiche (z. B. Autoproduktion vs. Bildung) zu betonen und, statt auf Bewegung durch Parteien & Co. zu warten z. B. in Halbinseln (Friederike Habermann) selbst umsetzen, um Nachdenkprozesse anzustoßen.
Ein wenig Lebensfreude und erquickliche Subversivität in die erstickenden Diskussionen brachten die künstlerischen Interventionen. So sind uns Menschen begegnet, die im Chor “verkündeten” dass genug für alle da ist – Nahrung, Wohnung und auch Liebe. Das Duo „Fräulein Bernd“ feat. Logotorium hat uns das Grimm-Märchen vom Süßen Brei erzählt, in dem die durch Maßlosigkeit ausgelöste Katastrophe in letzter Minute gestoppt wurde, Empire-Vampire gesungen, mit uns zusammen Methoden eingeübt, wie wir uns endlich wieder besser fühlen („das sind nicht meine Probleme“) und ungeduldig die Kongressprogramm-Titelblatt-Schnecke zu mehr Leistung und Durchhaltevermögen angefeuert.
Auf dem Podium „Ökologische Grenzen: Ist Entkopplung möglich?“ gaben dann vier Männer ihre Ansichten zu der Frage zum Besten. Dabei bestand eine erstaunliche Einigkeit in der Systemkritik, wonach eine Entkopplung innerhalb der herrschenden Wirtschaftsstrukturen mit Profitorientierung nicht möglich sei. Entsprechend distanzierten sie sich auch vom „Green New Deal“, wenngleich T. Santarius – als Vertreter der Heinrich Böll Stiftung – doch ähnliche Rezepte anbot: Einen starken Staat und erstmal noch schnell das Wachstum – durch staatliche Investitionen – nutzen, um die Wirtschaft ökologisch umzugestalten. Denn das sei ohne große Investitionen nun mal nicht möglich … Um Windparks zu bauen, Batterieautos voranzutreiben und Häuser zu dämmen, oder wie? Und dann lehnen wir uns entspannt zurück und leben vom ‚Naturzins‘? Das klang sehr widersprüchlich, ist aber nicht erwidert worden. Immerhin machte der ‚starke Staat‘ doch im Publikum Bauchschmerzen, wo sich wohl viele emanzipatorische Ansätze wünschten. Er klärte das immerhin teilweise auf, dass der Staat nicht die schwarz-gelbe Regierung sei, sondern „wir“ – aha, die Wutbürger und so. Ein Podiumskollege (B. Klein) fand denn auch, dass ein „Bottom-Up-Ansatz“ vielversprechender sei, der dritte (T. Jackson) fand beides wichtig. M. Müller schließlich, einst Abgeordneter der Grünen, forderte gar einen „Epochenbruch“, der die Aufklärung und das Naturverständnis der europäischen Moderne überwindet. Nur so sind wahrscheinlich auch die mentalen Infrastrukturen etwa des Podiums zu überwinden und können wir uns einst in Suffizienz üben – einem häufig und beliebt benutzend Begriff. Genug ist dann genug.
Bis dahin bleibt viel zu tun, Wachstumskritik schien hier Vieles unter einen Hut zu bringen (,was eigentlich im Kapitalismus falsch läuft’) und die Resonanz war erstaunlich groß. Sicherlich gibt es einiges zu kritisieren: Die Diskussionen konnten wenig ausgeführt wurden, die Verbindung zwischen den Veranstaltungen durch die Themenstränge gingen nicht auf und es gab nur kurze, überblickartige Veranstaltungen, die sehr frontal gehalten wurden. (Wie erwähnt gab es Auflockerung durch die „Künstlerische Intervention“, die aber abgespalten blieb.) Dennoch fand ich es einen wichtigen Kongress, auf dem die Teilnehmenden viel mitnehmen konnten. Und aus anarchistischer Sicht dürfen wir uns da gerne einmischen, auf hierarchische Strukturen und Widersprüche hinweisen. Nicht zuletzt darauf, wie die/wir linken und emanzipatorischen Aktivist_innen im System und ihren mentalen Infrastrukturen handeln, indem sie sich/wir uns selbst verausgaben, um in diesem Spektrum – etwa bei Stiftungen – einen Job zu kriegen, oder noch was Schlaues zu tun, zu sagen oder schreiben, um Gehör zu finden und damit irgendwas zum Positiven zu wenden (wie vielleicht auch die Autor_innen dieses Textes). Vielleicht dann doch Kapitulation (frei nach Tocotronic) … um jenseits des Wachstums, nein, des Kapitalismus zu landen?